Jens Seemann war lange Zeit Tretroller-Sportler und hat sich durch seine Bücher „Tretrollersport: Einsatz Fahrtechnik Material Wettkampf“ und „Tretrollersport kompakt“ zum Experten der Szene entwickelt. Im heutigen Interview erzählt er, wie er die Entwicklung der E-Scooter Szene, deren Einfluss auf die Tretroller-Szene und die Möglichkeit der sportlichen Wettkämpfe im E-Scooter-Bereich wahrnimmt:


Hi Jens! Da du hauptsächlich in der klassischen Tretroller-Szene bekannt sein dürftest, stell dich doch bitte unseren Lesern vor:

Jens Seemann
Jens Seemann

Ich bin jetzt 53 Jahre alt und davon die letzten 37 Jahre gehörlos, da ich an Hirnhautentzündung ertaubt bin. Ich habe mich gegen ein Cochlea-Implantat entschieden, weil ich mit der Situation auch so gut klar komme, obwohl ich nicht der beste Mundableser bin. Mit Hörenden nutze ich gelegentlich Spracherkennung im Handy. Im Elektrotechnik-Studium hatte ich eine Gebärdensprachdolmetscherin. Ich bin verheiratet und habe zwei mittlerweile erwachsene Kinder.

Zum Tretrollersport kam ich 2007, als ich nach Tretrollern im Internet geguckt habe und erstaunt feststellte, dass dahinter ein richtiger Sport steckt. Das fand ich cool. Ich kaufte mir ein gebrauchtes Kickbike und war begeistert vom Fahren. Nachdem ich schon mit einem Freund Liegeräder konstruierte und bauen ließ, wollte ich das auch mit Tretrollern (alleine) versuchen. Mir ging es vor allem um ein niedriges Trittbrett, weil das beim Fahren effizienter ist. Der Tretrollersport hat mir ein Hobby mit vielen Facetten gegeben. Das Fahren war toll, die Veranstaltungen machen Spaß (inkl. fotografieren), das Konstruieren von Rahmen war interessant und wegen der Bücher habe ich mich besonders intensiv mit dem Tretrollersport rundum auseinandergesetzt. Ich war da aber auch gerade sehr vertieft in das Thema und das ist ideal, um Sachbücher zu schreiben.


Du bist Tretroller-Sportler, Konstrukteur und Autor in diesem Bereich. De facto gibt es in Deutschland niemanden, der sich literarisch mehr mit dem Tretroller-Sport auseinandergesetzt hat. Jetzt hat sich durch die Einführung der E-Scooter in Deutschland ein komplett neuer Trend in dieser Richtung ergeben. Wie hat die klassische Tretroller Szene diese Entwicklung aufgenommen?

Ich bin zuletzt nicht mehr so aktiv in der Szene gewesen, fahre aber noch gelegentlich Tretroller.

Obwohl auch mit Trittbrett sehe ich im E-Scooter ein ganz anderes Teil. Den klassischen Tretroller fährt man vor allem, wenn (auch) der Weg das Ziel ist. Beim E-Scooter hingegen spielen Sport und Fitness i.a. kaum eine Rolle. Spaß macht er auf seine Art allerdings auch sehr. Trotz der starken Verbreitung und Bekanntheit des E-Scooters hat der klassische Tretroller davon wohl nichts abbekommen. Leute sind noch immer erstaunt über Tretroller mit großen Laufrädern. Ich denke, der Weg zu größerer Popularität des klassischen Tretrollers führt nur über den Sport. Und der ist sehr stark von der Tätigkeit von gewöhnlich unbezahlten Organisatoren aus der Szene abhängig. Damit steht und fällt die Tretrollerszene, wie es auch bei anderen Randsportarten meist der Fall ist.

Der E-Scooter ist dagegen eher eine Einfachversion eines Pedelecs, mit Vorteilen bei Preis und Kompaktheit, aber Nachteilen bei Gepäck und Reserven, wenn der Akku leer geht. Der E-Scooter ist genial für den Verleih in der City mit App-Nutzung. In Privathaushalten scheint er mir dagegen weniger erfolgreich zu sein, aber immer noch mehr als der klassische Tretroller, über den Medien kaum berichten. Wenn Sport nicht das Ziel ist, wird der Mensch gerne bequem und da spielt dann der E-Motor seine Reize aus, also als Verkehrsmittel. Daher sind Pedelecs auch so erfolgreich.


Du bist selbst mit Effendibikes unter die Liegeradkonstrukteure gegangen und hast schlussendlich auch Tretroller konstruiert. Kam aufgrund des aktuellen Hypes schon einmal die Idee, sich vielleicht auch mal an einem E-Scooter „made in Germany“ zu versuchen?

Mich reizt der E-Scooter weniger. Zudem ist er komplexer zu konstruieren mit dem Antrieb. Da ich nicht selbst schweiße, wäre das Konstruieren ein schwierigerer Prozess. Agresti, wo ich schweißen ließ, wohnt schon seit längerem weit weg und Kontakt ist jetzt praktisch nur über E-Mail möglich. E-Scooter kenne ich nicht soo gut, obwohl wir zuhause auch einen haben.


Die Tretrollersport-Szene ist in Deutschland immer noch eher eine Randsportart. Nun werden in der E-Scooter Szene Themen wie „Tuning“, „Leistungssteigerung“ und „Geschwindigkeitsmaximierung“ abseits der Straßenzulassung immer beliebter. Aus den USA und Südostasien tauchen immer mehr Bilder mit E-Scootern auf, die bis zu 100 km/h schnell fahren. Könnte E-Scooter Sport in Deutschland ein Ding werden oder anders gefragt, wann kommt die Formula Micro-E?

Ich habe den E-Scooter bisher nicht als Sportgerät betrachtet. Er ist auch ein ganz anderes Teil als z.B. ein Mini-Stuntscooter. Trotzdem wäre es sicher möglich, damit sportlich zu fahren. Man müsste bei Rennen die spezifischen Eigenschaften nutzen. Bei klassischen Tretrollern sind z.B. hügelige Strecken gut für Rennen. Ich sähe beim E-Scooter eher Rennen, wie ich sie aus der Liegeradszene kenne. 1996 hatten wir z.B. auf einem Ikea-Parkplatz das Hamburger Liegeradfestival mit einem kleinen Rundkurs, flach, kurz und kurvig, und einigen Ausstellern, sowie noch einem Geschicklichkeitskurs. Das könnte mit E-Scootern Spaß machen, wie auch Rennen auf Indoor-Kartbahnen, die es auch mal mit Liegerädern gab.

Aber so eine Sache steht und fällt immer mit einzelnen Aktiven, die organisieren, wie oben schon erwähnt. Elektro-Tuning ist sicher nicht ungefährlich. Akkutechnik will mit ihrer Belastung erprobt sein, sonst kann es gefährlich werden. Von daher sähe ich in einer Hobbyszene mit Tuning a’la Fast&Furious Risiken. Mit Sponsoren und groß mit Regelwerk aufgezogen könnte es sicherer sein. Aber ich glaube nicht, dass sich ein Sponsoreneinsatz über Zuschauer bzw. Werbeeffekte refinanzieren könnte. Das wäre ein Einsatz, der langen (finanziellen) Atem erfordert, solange bis es für Zuschauer interessant wird. Es braucht dann Medienberichte und Stars der Szene.

Da der physische Leistungsfaktor mit Motor weniger Bedeutung hat als beim klassischen Tretrollersport, braucht es schon verschiedene Hersteller, die materialmäßig zusätzlich Spannung in die Rennen bringen könnten, denn die 20 km/h-Scooter von der Stange wären wohl zu wenig. Kurz: Ich glaube nicht daran. Der Aufwand mit Hersteller-Teams wäre zu groß, Tuning-Scooter eher ein Risiko und Rennen mit käuflichen Standard-Scootern nicht spannend genug. Aber ich kann mich irren :).


Zum Abschluss: Was würdest du dir für die Tretroller und die E-Scooter Szene in Deutschland in Zukunft wünschen?

Zwar denke ich, dass die Szenen sich kaum zusammenführen lassen, aber ich wünsche beiden Szenen ideenreiche Aktive mit Lust, Treffs oder Veranstaltungen zu organisieren. Außerdem wären auch TV-Auftritte nützlich, um bekannter zu werden, z.B. bei Schlag den Star oder in TV-Filmen. Vielleicht lohnt es sich auch, sportlichen Influencern mit reichlich Followern mal Roller/Scooter zu leihen oder gar zu sponsern.

 

Vielen Dank Jens!

 

Wer mehr über Jens Seemann erfahren möchte, findet hier seine Website: Effendibikes.de


Seb ist „der Techniker“ unter den Scooterianern. Als Berliner weiß er auf alle Fragen zum Thema E-Scooter eine Antwort, die mit „Ick gloob…“ anfängt. Neben der E-Mobilität ist Seb begeisterter Radfahrer.